Hauptmenü

Übersicht

Selbstermächtigung und Eigenwahrnehmung: Kinder-Theater brauchen Theater-Funken

Die Darstellenden Künste können den Blick in Welten und Kulturen öffnen. Voraussetzung ist aber, dass neben der Produktion auch Rezeption und Distribution gepflegt werden. Am besten in Partnerschaften mit Schulen, vor allem auch in ländlichen Räumen. Kinder- und Jugendtheater stehen dabei für standortsensible Recherchen, für eine zeitgenössische „Heimatpflege“, sind interdisziplinär, intergenerationell und interkulturell. Ein Beitrag von Professor Dr. Wolfgang Schneider.

Eine Frau hält ein Küchengerät in der Hand, aus dem Funken fliegen.

Für den Flug der Funken braucht es im Theater nicht die Feuerwehr, es geht nämlich nicht darum, einen Brand zu bekämpfen, es braucht die Kreativität der Kunst und des Publikums, um jene Fantasie zu entzünden, die sinnliche Wahrnehmung anspricht und geistige Auseinandersetzung initiiert. Wir wissen seit Tausenden von Jahren, dass Theater den Blick in Welten und Kulturen öffnen und die Verschiedenheit der Perspektiven auf Geschichte, Lebenswelt und Zukunft sichtbar machen kann. Voraussetzungen dafür sind die Offenheit der Beteiligten für den Austausch über Grenzen hinweg.

Festivals wie der „Theaterfunken“ sollten schon allein deshalb auch weiterhin ihre Programme als geschützte Räume für den künstlerischen Austausch präsentieren, diejenigen sichtbar machen, die hinter den Produktionen und dem künstlerischen Profil eines Theaters stehen, und das Sehen und Hören als ästhetische Erfahrung schulen. Kulturelle Vielfalt ist keineswegs selbstverständlich, sie braucht Sensibilität in Partizipation und Rezeption, sie braucht aber auch das Ausprobieren in der Praxis, damit sich im künstlerischen Zusammentun etwas ändert.

La Grenouille produzierte das Stück „Mensch ärgere dich nicht“, das 2024 unter anderem im Rahmen des Theaterfestivals „Theaterfunken“ aufgeführt wird. La Grenouille ist ein regionales, zweisprachiges Theaterzentrum für junges Publikum, beheimatet in Biel/Bienne (CH).
Foto: Guy Perrenoud

Die vom Fonds Darstellende Künste, dem einzigen nationalen Förderinstrument für Theater in der Bundesrepublik Deutschland, jüngst in Auftrag gegebenen Studien zeigen allesamt, dass neben der Produktion Distribution und Rezeption von Theater mehr im Mittelpunkt eines gemeinsamen Interesses stehen müssten. In einer konzertierten Aktion wären Partnerschaften mit Schulen und Bürgerhäuser sowie Büchereien und Museen zu pflegen. Dieser Prozess könnte mit allen Akteurinnen und Akteuren nachhaltige Veränderungen in der Theaterlandschaft ermöglichen. Jenseits der Metropolen wären vor allem Kommunen und Landkreise insbesondere in ländlichen Räumen stärker zu berücksichtigen, um durch eine Dezentralisierung der darstellenden Künste Barrierefreiheit, also Zugänglichkeit für die Breite der Bevölkerung, zu gewähren (vgl. Schneider, Fonds 2022).

Die Zukunft der Darstellenden Künste liegt in den ländlichen Räumen

Ob im Aargau, in Kärnten oder in Mecklenburg-Vorpommern, der Diskurs um das Theater in der Provinz bringt es auf den Punkt: Die Darstellenden Künste können Ausdruck der Diversität in der Kulturlandschaft sein – auch wenn Bern, Wien und Berlin Theater-Haupt-Städte zu sein glauben. Doch mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in der Schweiz, in Österreich und Deutschland lebt jenseits der Metropolen, aber nur 10 Prozent der öffentlichen Kulturförderung fliesst in ländliche Räume. Dabei geht es zuallererst um das Menschenrecht auf künstlerische Teilhabe.

Das Theater Atoll mit der Inszenierung von „Mira erklärt die Welt“. Ein Stück für Kinder ab 8 Jahren. Foto: Sepp de Vries

Zu klären ist deshalb, was es braucht, um Theater auf dem Lande und in kleineren Städten möglich zu machen. Bei den vielerorts initiierten Debatten stehen drei Aspekte immer wieder im Mittelpunkt: Die Idee vom theatralen Projekt, die Konzeption vom Kooperieren als Format und die Priorität einer publikumsorientierten Theaterarbeit. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Tatsache: Theater ist für alle da! Wo auch immer Menschen leben, sie haben einen Anspruch auf Theater, auf Zugang und Beteiligung. In der Kulturpolitik geht es allzu oft um die Immobilien des institutionalisierten Theaters und viel weniger um die künstlerische Distribution oder gar um die kulturelle Rezeption.

Ziel muss es sein, zum Austausch zwischen Gesellschaft, Kunst und Pädagogik zu ermuntern, am besten mit internationalen Beziehungen und globalen Kontexten in die Region zu wirken. Es geht um Community Building und Empowerment, um das Zusammendenken von „Schau-Spielern und Zuschau-Spielern“, um Expertinnen und Experten des Alltags und Jugendclub, um Theaterkunst und Soziokultur. Auf alle Fälle: Theater mit dem Auftrag für standortsensible Recherchen und einer kommunalen Kulturförderung als Risikoprämie. Die Zukunft der Darstellenden Künste könnte dann interdisziplinär, intergenerationell und interkulturell geprägt sein und die Prozesse der Transformation kritisch und unterhaltsam begleiten, Teil von Kulturentwicklungsplanungen werden und zur Reform der Theaterlandschaft beitragen (vgl. Schneider, Eitzeroth 2017).

Moritz Alfons im Stück „Was macht ds Wätter?“ von Engel & Magorrian. Bei diesem „Theater der Ding“ für Kinder ab 3 Jahren ist das Publikum zu Besuch beim Wetterwart. Das Stück wurde sowohl 2023 als auch 2024 am Theaterfestival „Theaterfunken“ gezeigt. Foto: Janosch Abel

Und hier kommen die Kinder- und Jugendtheater ins Spiel; denn insbesondere die sind nah dran und mittendrin, vor Ort, wo die unterschiedlichen Welten aufeinandertreffen, im besten Falle in der Konfrontation mit den Künsten, wo die existentiellen Auseinandersetzungen thematisiert werden können. Zum Beispiel: Die Pflege von Heimat – ein umstrittenes Thema, aber eins, das Menschen insbesondere in ländlichen Räumen eint. Theater für junges Publikum kann jenseits von Aus- und Abgrenzung, das Für- und Miteinander zum Gegenstand haben, politische und kulturelle Bildung ermöglichen sowie inhaltliche und ästhetische Impulse für das gemeinsame Gestalten von Zukunft geben.

Dabei ist die Frage nicht „Was ist Heimat?“, sondern „Wie ist Heimat?“. Das Hauptanliegen von künstlerischer Praxis könnte also ein Versuch sein, zu erkennen, was eine Heimat braucht, um eine „gute“ Heimat zu sein und eine Bewusstseinsförderung dessen, dass das, was sie ausmacht, nur bestehen bleiben kann, wenn sie gepflegt wird und sich verändern kann. Der Aspekt dieser bewussten Herangehensweise, der Diskurse über Heimat, stellt eine neue Art von „Heimatpflege“ dar – ganz beseelt von einer Idee von Heimat als Kategorie kultureller Identität, oder wie es die Soziologie formuliert hat: Heimat als Möglichkeit des Lebens, das es gelingend zu gestalten gilt.

Partnerschaften von Theater und Schule stärken

Kunst öffnet Welten, Kunst gibt Raum für Utopie, Fragen und Erlebnisse. Theater für junges Publikum schafft Angebote für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen. Theaterbesuche sind nicht einfach nur Freizeit, sondern sie verstehen sich als Angebote kultureller Bildung, die zum (Lern-)Alltag von Kindern und Jugendlichen gehören. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunst ist ein Bildungsprozess, der vielschichtig und unverzichtbar ist. Das weiss man längst auch bei der Fachstelle Kulturvermittlung des Kantons Aargau. Was es aber nach wie vor zu gestalten gilt, ist eine politische Kooperation.

Das Stück „I want to belong (and sing a song)“ des Theaters Junge Marie ist ein Stück über Zugehörigkeit. Das Theater Junge Marie realisiert unter professioneller Leitung jährlich eine Theaterproduktion mit jungen Menschen. Foto: Sepp de Vries

Kulturverwaltungen und Schulverwaltungen sollten unterschiedliche Modelle entwickeln, die sowohl den Schulen als auch ihren Partnern in der Kultur verlässliche Rahmenbedingungen bieten. Um Kinder und Jugendliche nicht nur das eine oder andere Mal den Besuch bei den Darstellenden Künsten zu ermöglichen, bedarf es einer Permanenz an Zusammenarbeit von Schülerinnen und Schülern mit den Künstlerinnen und Künstlern. Nur so lernen sie voneinander, von den Arbeitsbedingungen in Schule und Theater und von den individuellen Erfahrungen und Erwartungen, aber auch von der Ernsthaftigkeit von Kulturarbeit. Theater ist nämlich schon lange nicht mehr Schule mit anderen Mitteln, Theater kann das Gegenteil sein, nämlich unstrukturiert und irritierend. Und damit lässt sich das Interesse des jungen Publikums eben auch wecken.

Die jüngste Studie der ASSITEJ Deutschland bestätigt diese immer mal wieder gemachte Erkenntnis. Im Fokus stand die Situation des sogenannten „Freien Kinder- und Jugendtheaters“, zu deren Verständnis „auch der Bruch mit dem traditionellen, als ’niedlich‘ beschriebenen Kinder- und Jugendtheater, welches die Zielgruppe weder hinsichtlich der angebotenen Theaterformen noch der Themensetzungen ernst nehme und herausfordere“ (ASSITEJ 2024, S. 69). Es gelte deshalb weiterhin experimentelle Angebote zu etablieren, um Selbstermächtigung und Eigenwahrnehmung der Kinder und Jugendlichen bei der Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Und dies gehe nur, wenn mit einem gesellschaftspolitischen Wandel in Kultur und Schule traditionelle Sehgewohnheiten in Zusammenarbeit zwischen Theater und Bildung aufgebrochen werden.

ASSITEJ Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater. Studien zur Situation 2027-2022. Berlin 2024

Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.): Partizipation als Programm. Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche. Bielefeld 2017

Wolfgang Schneider, Fonds Darstellende Künste (Hg.): Transformationen der Theaterlandschaft. Zur Fördersituation der Freien Darstellenden Künste in Deutschland. 2., erweiterte Ausgabe der Gesamtstudie. Bielefeld 2022


Gefällt Ihnen dieser Artikel? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter um stets über neue Blogbeiträge informiert zu sein.

Avatar

Professor Dr. Wolfgang Schneider

Professor Dr. Wolfgang Schneider ist Vorsitzender des Fonds Darstellende Künste, Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche und Ehrenmitglied der ASSITEJ Deutschland und der Schweiz. Er war Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und wurde vom Bundespräsidenten für sein internationales Engagement zur kulturellen Bildung mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet.