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Bildung, Künste und Zukünfte

Die Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft ist in den letzten Jahren vermehrt zu einem bildungspolitischen Anliegen geworden. Aber wie wollen wir eigentlich mit Zukunft umgehen – im Modus der Antizipation oder Imagination? Wie können wir im Bildungskontext den Akzent von Zukunftsbewältigung zu Gestaltung von Zukünften verschieben? Und welche Rolle können die Künste darin spielen?

An einer Fensterscheibe kleben farbige Papiere mit Zeichnungen und Text drauf.
Zukunftsvisitenkarten

Bildung für Zukünfte

In Zeiten sozial-ökologischer Polykrisen und beschleunigten digitalen Wandels erfahren wir als Gesellschaft verstärkt Unsicherheit, Ungewissheit und Diskontinuität. Zukunft ist als kontingenter Erwartungsraum zwar durch Ungewissheit gekennzeichnet – in der kollektiven Wahrnehmung erscheint das Kommende jedoch ungewisser als auch schon. Die Weiterentwicklung und zunehmende Ausbreitung Künstlicher Intelligenz in viele Arbeits- und Lebensbereiche hat zur Folge, dass wir die zukünftigen Lebensumstände und Berufe, auf die wir Kinder und Jugendliche heute vorbereiten, womöglich noch gar nicht kennen (Furrer et al., 2024: 49). Grund zur Sorge ist die anhaltende Überschreitung planetarer Belastungsgrenzen und das Risiko, dass sich die Voraussetzungen für menschliches Leben auf dem Planeten unumkehrbar verschlechtern (Furrer et al., 2024: 14). Unter diesen Vorzeichen dient Bildung oftmals als Projektionsfläche für Zukunftsängste wie auch -hoffnungen. Davon zeugen immer neue Future Skills, das sind „Wissen, Einstellungen, Werte, Fähigkeiten und Kompetenzen, die Lernende auf die Zukunft vorbereiten sollen“ (Kotsiou et al. 2022:174) – wie zum Beispiel Problemlösen, unternehmerisches Denken, Kommunikation, Innovationsfähigkeit, Kreativität, kritisches Denken oder Kollaboration. Eine aktuelle Vergleichsstudie listet 99 Konzeptrahmen der Future Skills und darin sagenhafte 341 Zukunftskompetenzen auf (ebd). Das neuere Konzept der Futures Literacy setzt hingegen gänzlich auf die eine, allgemeine Zukunftskompetenz, denn sie „hilft den Menschen zu verstehen, warum und wie wir die Zukunft nutzen, um uns vorzubereiten, zu planen und mit der Komplexität und Neuartigkeit unserer Gesellschaft umzugehen“ (UNESCO/ Futures Literacy). Der Ansatz wird seit 2012 durch die UNESCO entwickelt und wurde in partizipativen Futures Literacy Laboren in 44 Ländern erprobt. Gemeinsam ist den beiden Bildungskonzepten, dass sie zwar die Zukunftsrelevanz von Kreativität behaupten1 – Kreativität gehört zu den top drei der Zukunftskompetenzen –, zugleich aber in deren theoretischen, praktischen und methodischen Ausdifferenzierung vage bleiben. Zudem wird Kreativität in beiden Konzepten vor allem mit Innovationsfähigkeit verknüpft, so dass in diesem verkürzten Kreativitätsverständnis die Zugänge der Künste mit ihrer ergebnisoffenen Haltung wie auch kollektiven Arbeitsweisen gänzlich unberücksichtigt bleiben. Es ist ein gefährliches Versäumnis die Künste nicht als fundamentalen Bestandteil einer Bildung für Zukünfte zu betrachten. Denn wenn Kreativität auf Innovationsfähigkeit reduziert wird, wird sie lediglich als individuelle Ressource in den Dienst für die Antizipation von Megatrends genommen.

Zukunftsbilder, Foto: Wiktoria Furrer

Künstlerische Futuropraktiken

In der neueren Futurologie, die sich von militärischer und industrieller Prognostik absetzt, ist nicht von Zukunft, sondern von Zukünften die Rede. Im Plural zeigt sich, dass es nicht die eine vordeterminierte, unausweichliche Zukunft gibt, sondern dass sich vielfältige Möglichkeitsräume eröffnen (Furrer et al., 2024:49). Der Begriff Zukünfte verweist, wie die Historikerin Elke Seefried ausführt, „seit den 1960er-Jahren darauf, dass die Zukunft offen sei und es alternative Wege von der Gegenwart ins Kommende und viele Möglichkeiten gebe, die Zukunft zu gestalten“ (Seefried 2023). „Zukünfte“ gehen über das Denken in Szenarien hinaus und betonen die grundsätzliche Offenheit zukünftiger Entwicklungen. Zwangsläufig erinnert der Ausdruck Zukünfte an die Gestaltungs- und Handlungsmacht der Menschen und deren Verantwortung für die Welt, in der sie leben. Das Gestalten – zugleich ein zentraler Begriff künstlerischer Praxis – wird so zum Distinktionsmarker zwischen Zukunft und Zukünften. Im Essay „Zukunft. Kunst des Ungewissen“ von Zoran Terzić sind es die ähnlich aktiv formulierten Futuropraktiken des Gestaltens, Schreibens und Erkennens, die uns Zugänge zu Zukünften verschaffen (Terzic 2022: 161ff). Künstlerische Futuropraktiken sind notwendig, um Zukünfte imaginieren zu können. Imagination, verstanden als das Vermögen, sich überhaupt eine andere Welt vorstellen zu können, ist ein Treiber der Zukunftsgestaltung. Zugleich ist Imagination die Domäne der Kunst, die durch die Teilhabe an ästhetischen Prozessen in Gang gesetzt wird.

Erstellen eines Zukunftsplakats, Foto: Wiktoria Furrer

Der Einsatz dieser Ausführungen liegt bisher vornehmlich in der Absicht, Bildung für Zukünfte durch die Verfahren und Haltungen in den Künsten zu aktualisieren. Die Gedanken dazu entstammen einem gemeinsamen Denk- und Diskussionsprozess mit Prof. Dr. Silvia Henke von der Hochschule Luzern – Design, Film und Kunst, die in ein beantragtes Forschungsprojekt geflossen sind. Ziel dieses Projekts ist die Konkretisierung einer ästhetischen und künstlerischen Bildung für Zukünfte im schulischen und ausserschulischen Bildungskontext.

Flickenteppich der Zukünfte

Einen Vorgeschmack auf erhoffte anwendungsorientierte Resultate des Forschungsvorhabens bietet die Projektwoche „Flickenteppich der Zukünfte – teilen, reparieren, ausleihen“, die wir mit Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse der Schule Riesbach in Zürich im März 2023 durchgeführt haben. In Kooperation mit Radio Sirup, dem Studierendenradio der Universität Zürich und ETH haben wir mit den Kindern eine Radiosendung produziert. Die Radiosendung wurde auf Radio LoRa ausgestrahlt2.

Flickenteppich der Zukünfte im Klassenzimmer, Foto: Wiktoria Furrer

Die partizipative Sendungsproduktion fungierte zugleich als Forschungs- und Präsentationsformat für die Auseinandersetzung mit Zukünften. Dieser doppelte Ansatz funktionierte, weil die Schülerinnen und Schüler einerseits bereits Expertinnen und Experten für ihren Lebensalltag und andererseits als Radiomacherinnen und Radiomacher zu neugierigen Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher geworden sind. Sie haben u.a. Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchgeführt, in Strassenumfragen Passantinnen und Passanten befragt, Reportagen im Repaircafé in der Zentralwäscherei und dem Zurich Knowledge Center for Sustainable Development aufgenommen. Darüber hinaus haben sie die Sendung moderiert, die Musik ausgewählt und den Grobschnitt der Sequenzen geleistet. Das Radioformat an sich und die öffentliche Ausstrahlung der Sendung motivierte die Kinder zu einer höchst engagierten Teilnahme, wie die Klassenlehrerinnen Lesley Toal und Nadine Jankovic bezeugten.

Besuch im Repaircafé in der Zentralwäscherei, Foto: Wiktoria Furrer

Im Mittelpunkt der Projektwoche stand die Frage, wie wir in Zukunft auf einem begrenzten Planeten zusammenleben wollen. Wie der Untertitel „teilen, reparieren, ausleihen“ signalisiert, ging es um Zukunftsentwürfe für ein gutes Leben für Alle, die nicht auf Konsum beruhen. Diese normative Setzung einer suffizienten Zukunft im Sinne des Leitbildes der Nachhaltigen Entwicklung war eine anregende Beschränkung – ein enabling constraint wie es Erin Manning und Brian Massumi beschreiben – die den kreativen Prozess der Klasse strukturierte.

In der Sendung berichten die Schülerinnen und Schüler von ihren Zukunftsvisionen und Vorstellungen von einem guten und massvollen Leben auf einem endlichen Planeten. Die Gedanken und Beiträge der Kinder zum Themenzusammenhang zwischen Zukünften, Ressourcenknappheit und Suffizienz waren gleichermassen erstaunlich, tiefgründig, klug wie auch witzig.

Hilfreich wirkte sich auch die dem Workshop zu Grunde liegende Metapher des Flickenteppichs aus:

  1. So wie der Flickenteppich selbst aus verschiedenen Flicken besteht, kommen auf ihm Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen, deren Zukunftsvorstellungen verschieden sind, teilweise sogar konfligieren.
  2. Der von Hand gewobene Teppich erinnerte uns zudem daran, dass die Fäden in unserer Hand liegen und wir durch unser Handeln die Zukunft beeinflussen und die Welt gestalten können.
  3. Nomaden bauen sich mit Teppichen ein Daheim auf Zeit und wir nutzen den Teppich ebenfalls als unseren temporären Versammlungsort.
  4. Mit dem Teppich fliegen wir in die Zukunft.
    Der im Klassenzimmer ausgebreitete farbige Kelim bildete nicht nur metaphorisch den common ground, sondern war in der Tat der zentrale Begegnungsort für die Kinder. Die Versammlungen auf dem Teppich rhythmisierten die Zusammenarbeit: beginnend mit einem Aufwärmen am Morgen zum oldschool Lied „Teppich fliegen, das ist logisch“ aus dem Berliner Zeichentrickfilm „Aladin“ von 1993 von Dingo Pictures (nicht von Disney), über das Auslegen von Zukunftsbildern, Zukunftskarten und Roadmaps bis zur Abschlussrunde im Kreis gegen Unterrichtsende.

Damit Schule, ähnlich wie der Flickenteppich, zum Verhandlungsort individueller und kollektiver Zukunftsentwürfe wird, sollten Kinder und Jugendliche ermächtigt und befähigt werden, Zukünfte zu gestalten. Es ist im Sinne kultureller Teilhabe, dass auch Kinder und Jugendliche am Zukunftsdiskurs teilnehmen und dass wir Ihnen zuhören.

Weitere Informationen für die Durchführung von Zukunftsworkshops finden sich gratis zum Download in der Publikation „Wege zur Suffizienz – Grundlagen und Anleitung für die Durchführung von Zukunftsworkshops“.


  1. vgl. PISA 2022: PISA 2022 Results (Volume III): Creative Minds, Creative Schools, PISA, OECD Publishing, Paris 2024 ↩︎
  2. vgl. Newsbeitrag ZKSD: https://zksd.ch/projektwoche-radiosendung-mit-und-von-schuelerinnen-ueber-suffiziente-zukuenfte/, zuletzt besucht im Januar 2025. ↩︎

Das Literaturverzeichnis finden Sie auf Seite 2.


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Flickenteppich der Zukünfte – teilen, reparieren, ausleihen

Involvierte Kulturschaffende

Wiktoria Furrer, Professorin für Kulturvermittlung und Theaterpädagogik und René Inderbitzin, wissenschaftlicher Mitarbeiter UZH und ZKSD; Team von Radio Sirup Dario Spilimbergo, Elie Sieber, Dharma Senn und Jasmin Studerus; Lehrerinnen Lesley Toal und Nadine Jankovic

Involvierte Kulturbetriebe

Zurich Knowledge Center for Sustainable Development, Universität Zürich und ab 2023 Pädagogische Hochschule FHNW als Praxispartnerin im Forschungsprojekt «Wege zur Suffi-zienz»; Radio Sirup

Zeitraum Projekt 27.03.2023 bis 31.03.2023
Schule(n) Schule Riesbach Zürich
Schulstufe(n) 6. Klasse

Wiktoria Furrer

Wiktoria Furrer ist Professorin für Kulturvermittlung und Theaterpädagogik an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Als Kultur- und Politikwissenschaftlerin arbeitet sie zu partizipativen Formaten der Kunst, Bildung für Zukünfte und "Bildung und Künste für Nachhaltige Entwicklung".