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Grenzen sprengen – aktuelle Tendenzen im Kinder- und Jugendtheater

Das Schweizer Kinder- und Jugendtheater ist vielfältiger denn je. Und es ist einem beständigen Wandel begriffen, der immer auch gesellschaftliche Transformationsprozesse reflektiert. Peter-Jakob Kelting wirft einen Blick auf die Entwicklung einer Sparte, die dem Theater für Erwachsene oft einen Schritt voraus ist.

Vier Frauen in blauer Kleidung tanzen in einem Lichtstrahl auf der Bühne, während es rundherum dunkel ist.
Foto der Vorstellung Perspectives

Als die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer der Inszenierung „Perspectives“ im Dezember 2023 den Spielraum in der Alten Reithalle betreten, stellen sie fest, dass sie nicht wie erwartet ihre Plätze im Publikum einnehmen können, sondern auf der Bühne Aufstellung nehmen und selbst zu – vorerst unfreiwilligen – Akteurinnen und Akteuren werden.

Von dort, wo normalerweise sie sitzen würden, werden sie von Schwarzen Performerinnen betrachtet und beurteilt, und zwar nach demselben Muster, wie weisse Menschen häufig und mehr oder wenig (un-)bewusst über „People of Colour“ sprechen. Die Umkehrung des Gewohnten macht ihnen unmissverständlich klar: Sie sind gemeint! Erst danach können die Jugendlichen ihre gewohnte Rolle einnehmen und wohnen einer überaus kraftvollen Tanzperformance bei, die die schmerzhaften Erfahrungen unmittelbar spürbar werden lässt, die Menschen von anderer Hautfarbe mit rassistischen Mikroaggressionen machen. Durch die Umkehrung der Theaterkonvention hat die Gruppe um die Regisseurin und Performerin Anna Chiedza Spörri die Schülerinnen und Schüler auf verblüffend spielerisch-einfache, aber nachhaltige Weise mit dem Thema Diskriminierung konfrontiert.

Spielfreude und Engagement

„Perspectives“ steht beispielhaft für eine Entwicklung, die sich im Kinder- und Jugendtheater seit einigen Jahren beobachten lässt. Künstlerinnen und Künstler, die für ein junges Publikum Inszenierungen kreieren, scheren sich bei ihrer Suche nach Erzählweisen, die ihr Publikum zwischen 3 und 23 Jahren unmittelbar berühren, nicht um die Frage, in welche ästhetische Schublade sie sich einordnen lassen. Wie Anna Chiedza Spörri Elemente des Tanztheaters mit Spoken Word und Performance mischt, haben eine ganze Reihe von Gruppen, Regisseurinnen und Regisseure sowie Spielerinnen und Spieler innovative Formen jenseits aller Spartengrenzen erfolgreich erprobt.

Ein Mann und eine Frau in bunter Kleidung werfen sich Kleidungsstücke oder Stoffe zu.
Sgaramusch mit dem Tanztheater „dÄmonen“, Bild: Christian Herrmann

Das Schaffhauser Theater Sgaramusch verfolgt diesen multiperspektivischen Ansatz seit Jahren mit grosser Konsequenz und Verspieltheit. Je nachdem, welches Thema sie bearbeiten, welchen Stoff sie wählen und für welche konkrete Altersgruppe sie spielen, setzen sie Tanz- und Sprechtheater, Figuren- und Schauspiel ein. Aber auch andere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit machen deutlich, dass sich Spielfreude und die Lust am Geschichtenerzählen aus den unterschiedlichsten ästhetischen Quellen speisen können.

Im Aargau ist es vor allem die Gruppe Lowtech Magic, die auf der Basis des „Physical Theater“ die Spannweite dessen auslotet, was den Reichtum kindgerechten Theaters heute ausmacht. Aber auch der „Veteran“ des Aargauer Kindertheaters, Jörg Bohn, lässt seine Kunstfigur Bruno zunehmend mit Worten, Puppen und Objekten „sprechen“.

Ein Mann und eine Frau liegen in den Armen einer Gestalt aus Watte, die eine Taucherbrille trägt.
Die Inszenierung „Wolke“ von Lowtech Magic, © Ruth Huber

Für ein Theater wie die Bühne Aarau, das sich bewusst als Mehrspartenhaus profiliert, in dem alle Genres des Bühnenschaffens zusammenkommen, ist diese Entwicklung zu multiperspektivischen Ästhetiken sehr begrüssenswert. Man kann durchaus davon sprechen, dass das Kinder- und Jugendtheater weitaus mutiger ist, als es Produktionen für Erwachsene zu sein pflegen.

Ein Mann mit Schnauz, Brille und Hosenträgern putzt einem Stoffhasen die Ohren.
Jörg Bohn spielt „Bruno und das Hasenvelo“, © Nesa Gschwend

Das Verfertigen von Stücken beim Proben

Seit jeher ist das Schweizer Kinder- und Jugendtheater geprägt von Stückentwicklungen, die sich zwar auf eine literarische Vorlage beziehen können, diese aber auf eine sehr freie Weise adaptieren. Eine Ausnahme bildet das Reinacher Theater Salto & Mortale, deren Inszenierungen – wie bei ihrem jüngsten Projekt „Echo Echo“ im Herbst 2023 – auf dokumentarischer Recherche basieren, die dann aber von einem Autor gewissermassen in eine literarische Form gebracht werden. Autorinnen und Autoren, die speziell für ein junges Publikum schreiben, sucht man in der Schweiz aber vergebens – ganz im Gegensatz zu den Theaterkulturen in Deutschland, den Benelux-Ländern oder Skandinavien, die von starken Texten für Kinder und Jugendliche geprägt sind.

Ein Mann läuft mit einem Helm in der Hand auf einer hell beleuchteten Bühne.
Das theater salto&mortale zeigt sein neues Stück „ECHO ECHO“, © Ramón Königshausen

Der Spiegel einer Generation

Stückentwicklungen, die aus der Probenarbeit mit den Darstellerinnen und Darstellern hervorgehen, sind zunehmend auch die Inszenierungen für junge Menschen ab 14 Jahren. Jugendliche spielen für Jugendliche! Vermehrt stehen also Laienschauspielerinnen und Laienschauspieler auf der Bühne, die unter professionellen Bedingungen ihre Stücke kreieren. Den Ausgangspunkt für diese Spielart des Jugendtheaters stellt das Bedürfnis dar, dass sich die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Akteurinnen und Akteuren auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sich selbst wiedererkennen, sich mit ihnen identifizieren. Und tatsächlich ist die Authentizität, mit der diese ihr Lebensgefühl als Heranwachsende in einer von existentiellen Unsicherheiten geprägten Zeit auf der Bühne zu vermitteln vermögen, oftmals frappierend.

Dass dabei gesellschaftliche Problemlagen be- und verarbeitet werden, gehört ebenfalls mit zu den Kennzeichen des zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters. Das scheint mir eines der wesentlichen Erkenntnisse aus der letztjährigen Ausgabe des Theaterfunkens zu sein: Es gibt ein ausgeprägtes Interesse von Lehrpersonen an Stücken und Inszenierungen, die aktuelle Themen, die auch im Schulalltag wirksam sind, aufgreifen und spielerisch reflektieren. Das Theatererlebnis endet nicht mit dem Verlassen des Zuschauerraums, es ist Anlass einer Auseinandersetzung mit unserer Wirklichkeit.


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Peter-Jakob Kelting

Peter-Jakob Kelting (*1959) verantwortete von Januar 2011 bis März 2024 die Künstlerische Leitung zunächst des Theater Tuchlaube, ab 2019 der Bühne Aarau. Zuvor war er als Dramaturg unter anderem für Kinder- Jugendtheater in Wilhelmshaven, Lübeck, Konstanz und Basel, als Theaterleiter am Theater Winkelwiese in Zürich und als Künstlerischer Betriebsdirektor für das Festival Theater der Welt in Stuttgart tätig.

Webseite: https://www.buehne-aarau.ch/