Hauptmenü

Übersicht

Sich im kreativen Chaos sicher und getragen fühlen – wie geht das?

Dass Partizipation in Gestaltungsprozessen durch Ergebnisoffenheit ermöglicht wird, ist heutzutage „common sense“ – insbesondere in der Kultur- und Kunstszene. Wie können Kulturschaffende und Lehrpersonen darin bestärkt werden, die ko-kreativen Räume möglichst offen zu halten und sich dabei im kreativen Chaos getragen zu fühlen? Im Prozessor-Projekt „Tools to Joyfulness“ haben wir damit experimentiert. Eine zentrale Rolle kam dabei mir als Schulcoachin zu, zum Beispiel wenn ich Reflexionsräume leitete.

Schülerinnen und Schüler sitzen mit Instrumenten draussen in einem Kreis.

Das ergebnisoffene Abenteuer – und wie wir es gestaltet haben.

Drei Schulklassen der Primarschule Villnachern liessen sich zusammen mit Künstler Bheki Ndlovu und den Klassenlehrerpersonen auf einen Prozess ein, der acht Wochen dauerte und in einem Ausstellungstag seinen Höhepunkt fand. Zusammen haben sie wöchentlich am Mittwochmorgen Räume geschaffen, in denen sie improvisierend die Lebensfreude und Verspieltheit erkundeten. Zusammen suchten sie nach eigenen Ausdrucksformen, experimentierten mit möglichen und unmöglichen performativen Bewegungs- und Klangwelten.

Dabei stand kein Produktionsdruck oder gewünschtes Resultat im Zentrum. Wir wollten die künstlerischen Impulse aus dem Moment hinaus und den Mut, sich auszudrücken in den Fokus nehmen. Fast ohne Worte und mit wenig Anweisungen kamen die Klassen ins Spielen. Als Künstler und Lehrperson galt es im Moment präsent zu sein, präzis zu beobachten und die verschiedenen Ideen und Energien aus der Gruppe aufzunehmen. Die filmischen Dokumentationen bieten Einblick in dieses lebendige Getümmel.

Die Lehrpersonen und der Künstler wagten sich mit minimalen Vorbereitungen in zweieinhalbstündige Sessions mit 60 Kindern. In den regelmässigen Reflexionsräumen zwischen den Sessions ging es darum, diese Offenheit und die damit einhergehenden Unsicherheit gemeinsam tragen zu können.

Wir haben konzeptionell drei Säulen definiert, die in der Prozessoffenheit Sicherheit geben sollten:

  • Klar definierte Projektphasen mit Dauer und grober Ausrichtung (zum Beispiel Exploration, Entwicklung und Konsolidierung)
  • Klar definierte Rollen für Künstler und Lehrpersonen
  • Fixierte Reflexionsräume verteilt über den gesamten Prozess

Das Gebilde aus Phasen und Terminen war relativ starr, mit dem Ziel, dass darin möglichst viel Freiheit möglich wird.

Im Sichern und Zusammenhalten dieser Säulen kam mir als Schulcoachin eine wichtige Rolle zu. Ich leitete die Reflexionsräume und übernahm Verantwortung für den Prozess. Darauf gehe ich im Folgenden ein. Zudem hütete ich auch die Prozesse der Schulentwicklungsthemen (überfachliche Kompetenzen, Fördern und Beurteilen) und sorgte für eine gute Schnittstellenarbeit mit der Schulleitung. Darauf gehe ich in diesem Beitrag aber nur am Rande ein (mehr dazu im Film „Das Kleine im Grossen“).

Die Reflexionsräume – und was da passierte.

In den Reflexionsräumen ging es um folgende Themen:

  • Check-In – Wie geht es dir momentan im Projekt?
  • Vogelperspektive – Wo stehen wir im gesamten Prozess? Was braucht es als nächstes?
  • Gruppendynamiken unter den Schülerinnen und Schülern, die spezielle Beachtung brauchen, damit alle integriert sind
  • Feedback mit Starfish-Retrospektive – Welche Justierungen brauchen unsere Rollen? Bei dieser Retrospektive-Methode überlegen sich Teams strukturiert, welche Verhaltens- und Zusammenarbeitsweisen sie beibehalten, mit welchen sie beginnen oder stoppen und von welchen sie mehr oder weniger wollen.
  • Wie schätzen wir die Förderung der fachlichen und überfachlichen Kompetenzen ein?

Je nach Projektphase nahm ein anderer Aspekt mehr Zeit ein. Zu Beginn stand das Rollenthema mehr im Vordergrund. Die Lehrpersonen und der Künstler einigten sich unter der Leitung von mir in der Teaming-Up-Phase auf drei handlungsleitende Fokusse: Observe! Be present! Facilitate!

An diesen drei Fokussen haben sie sich in den teils chaotischen Phasen orientiert. In den ersten Reflexionsräumen wurde deutlich, dass ihnen vor allem Observe! und Be present! halfen, um nicht immer gleich reaktiv zu handeln; sondern Entwicklungen vermehrt laufen zu lassen und zu beobachten, was entsteht. Zudem wurde klar, dass es für die Lehrpersonen wichtig war, den Fokus Facilitate! gemeinsam weiterzuentwickeln, damit er wirkmächtig werden konnte. Was verstehen sie darunter? Was bedeutet das für das Handeln? Die Reflexion dieser Rollen-Fokusse war nur möglich, indem sich alle öffneten, ihre Zweifel, vermeintliche Unzulänglichkeiten und Missverständnisse ansprachen.

Aus fachlicher Sicht als Teamsupervisorin und Organisationspsychologin konnte ich es einordnen: Je höher die Offenheit und Komplexität, desto mehr beginnt – neben der Partizipation und Kreativität – auch die Gruppendynamik zu spielen. Unter den Schülerinnen und Schülern ebenso wie im Projektteam. Und desto wichtiger wird die reflektierte Selbststeuerung des Projektteams und die Klarheit darüber, wie zusammen geführt wird. Das scheint allenfalls kontraintuitiv. Aber das kollektive Verständnis darüber, wodurch sich das kreative Chaos gerade charakterisierte, in welchem sie sich als Team wiederfanden, war ein Schlüssel. Daraus konnten die Lehrpersonen und der Künstler eine gemeinsame Klarheit ableiten, wann die Verantwortung bei den Schülerinnen und Schüler bleiben soll und wann sie sie übernehmen.

Aus meiner Sicht hatten die Reflexionsräume auch eine Containment-Funktion: Die Beteiligten wussten, dass sie – wenn ihnen etwas auf dem Magen lag – es bald und niederschwellig mit Zeit und Ruhe ansprechen konnten. Allein zu wissen, dass das möglich ist, hatte einen beruhigenden Effekt.

viele Schülerinnen und Schüler liegen in einer Turnhalle auf dem Boden
Die Primarschule Villnachern und der Künstler Bheki Ndlovu erkundeten zusammen Improvisationsformen in performativen Bewegungs- und Klangwelten. Foto: Anabel Marques

Learnings – und welche Erfahrungen wir gerne teilen.

Wir haben viel gelernt, auch Dank der Tatsache, dass wir alle den Mut aufbrachten, uns ins Unbekannte vorzubewegen. Ich bin davon überzeugt, dass sich einige unserer Learnings auch auf andere Settings und Projekte übertragen lassen:

  • „Freedom – but on the right spots!“ Sich nicht davor scheuen, sich selbst einen klaren Rahmen mit Terminen und Phasen zu geben. Nur im klaren Rahmen kann mit dem Frei-Sein und Verspielt-Sein experimentiert werden.
  • „Let’s reflect!“ Regelmässige, terminierte Retrospektiven erleichtern allen das Ansprechen, lassen das Reflektieren von Rollen zur Normalität werden und ermöglichen das Lernen eines wohlwollenden und ehrlichen Umgangs mit Feedback und Fehlern.
  • „It’s a question of attention!“ Im Chaos – oder in der Komplexität – ist die Frage der gelenkten Aufmerksamkeit zentral. Die gemeinsame Verhandlung darüber, wohin die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, gibt Sicherheit und Vertrauen. Vergleiche dazu die drei handlungsleitenden Fokusse von uns. Davon soll es nicht 15, oder 7 geben – 3 reichen! Reduktion ist angesagt.
  • „As simple as that!“ Die Projekt-Gspändli fragen, «wie geht es dir damit?» (mit der Unsicherheit, mit dem Chaos, …) und dann zuhören.
  • „Express yourself!“ Es braucht immer wieder einen Kraftakt, das Richtig-Falsch-Schema ein wenig aufzulösen – bei uns allen. Am besten gelingt es aber in diesen sicheren Räumen, wo wir auch in unseren Unsicherheiten getragen werden. Das gilt für uns Erwachsene wie für die Kinder. Dann ist gemeinsam viel möglich. Mehr Lebendigkeit, mehr Verspieltheit, mehr Verbundenheit… und das heisst auch nicht zuletzt mehr Ausdrucks- und Gestaltungsfreude.
Schülerinnen und Schüler stehen in zwei Linien in der Turnhalle. In de Mitte liegen Papierblätter am Boden
Die künstlerischen Entscheidungen innerhalb des Prozessor-Projekts lagen bei den Schülerinnen und Schülern. Foto: Anabel Marques

Gefällt Ihnen dieser Artikel? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter um stets über neue Blogbeiträge informiert zu sein.


Tools to Joyfulness

Involvierte Kulturschaffende

Bheki Ndlovu (freischaffender Künstler, Choreograf und Tänzer): www.bhekindlovu.org

Schule(n) Schule Villnachern
Schulklassen 3
Anzahl Schülerinnen und Schüler 60
Schulstufe(n) Zyklus 2
Avatar

Simone Frey

Simone Frey ist Dozentin für Supervision, Coaching und Organisationsberatung an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und selbstständig als Coachin tätig. Das Begleiten von Teams hin zu mehr psychologischer Sicherheit und Freude an der Zusammenarbeit steht dabei oft im Zentrum ihrer Arbeit. Seit ihrer Jugend ist sie in der Theater- und Tanzszene unterwegs. Als Co-Projekt-Leiterin von «Tools to Joyfulness» verband sie die beiden Leidenschaften.

Webseite: https://www.simonefrey.ch/