Ab und zu werden Erfindungen aus einem Zufall oder dank eines Missgeschicks entdeckt. Meist sind sie aber das Endergebnis harter und langer Arbeit. Denn Erfinderinnen und Erfinder tüfteln, testen, verwerfen, ändern, prüfen – und dies meist mehrfach –, bis dann (vielleicht) eine Lösung funktioniert. Für den geduldigen Prozess des Erfindens fehlt in der Schule oft die Zeit. Und um das Erfinden zu lernen, sowieso. Doch sechzig Schülerinnen und Schüler, vier Lehrkräfte und ein innovativer Künstler haben sich im Schulhaus Hasel der Herausforderung gestellt.
Schwierige Momente gehören zum Erfinden
Das Scheitern einer Idee gehört zur Lernphase. Und schwierige Momente in der Lösungsfindung werden beim Projekt „Büro für Ideen und Lösungen“ bewusst in Kauf genommen. Der bekannte Erfinder Stefan Heuss ist mehr als ein halbes Jahr regelmässig vor Ort und begleitet den Prozess. Das ist eine anstrengende Aufgabe, wie er schnell erfahren konnte.
„Herr Heuss, das Rohr hält nicht! Wie kann ich das ändern?“
„Herr Heuss, wie mache ich dieses Plastikteil fest?“
„Herr Heuss, was soll ich als Unterlage nehmen?“
Stefan Heuss ist an Erfindertagen eine gefragte Person. Seit mehreren Monaten arbeitet er hier. Die Kinder haben eine Idee und erfinden Lösungen dazu. Und er wird gefragt, wenn etwas nicht so funktioniert wie angedacht. Doch meist gibt er den Ball zurück, gibt lediglich Tipps zum Ausprobieren. Die lange Erfahrung im Tüfteln ist bei ihm deutlich spürbar. Stefan Heuss bringt wertvolle Inputs mit, überlässt den Schülerinnen und Schülern die Weiterentwicklung oder arbeitet mit ihnen zusammen an deren eigenen Ideen. Partizipatives Miteinander steht im Zentrum: Die Kinder haben Ideen, die Erwachsenen begleiten und organisieren, damit die Kinder wiederum Lösungen finden können. Die sechzig Schülerinnen und Schüler aus je einer ersten, dritten und sechsten Klasse arbeiten intensiv und lernen einiges dabei.
Besuch im Atelier
Es geht um sinnvolle und unnütze, aber witzige Geräte und um Maschinen, die das Leben vereinfachen, Gegenstände oder sich selbst bewegen. Es geht um Kunstwerke, welche alle zum Staunen bringen, die Wohngemeinde verschönern oder das gute Zusammenleben fördern. Ideen können von allen eingebracht werden.
Damit die Ideen sich vielseitig entwickeln können und nicht nur Maschinen zum Hausaufgabenlösen gewünscht werden, besuchten die drei Klassen den Künstler zum Projektstart in seinem Atelier in Dietikon und waren von den zu Instrumenten umgebauten Werkstattmaschinen oder Kinderwagen, die selbständig rüttelten und Baby beruhigen sollten, begeistert. Schnell war klar, dass Lösungen in diesem Projekt mit einem Augenzwinkern und viel Ironie und Vergnügen umgesetzt werden sollten.
Das Erfinden kann man trainieren
Bei ersten Diskussionen in den Klassen war klar, dass das Erfinden zuerst einmal gelernt werden muss – so wie das Schreiben und Rechnen. Als Einstieg gab es eine einfache Aufgabe: „Bringt eine kleine Metallkugel dazu, möglichst lange in einer Bahn und auf verschiedenen Wegen zu rollen!“. Der Lernprozess ist intensiv, denn „erfinden“ bedeutet scheitern, ausprobieren, neu andenken und es wieder und wieder zu versuchen. Manchmal verzweifelt man fast und bleibt trotzdem an der Idee dran, bis oft ein kleiner Input einen neuen Weg aufzeichnet und aus der Idee eine Lösung wird. Eine andere Röhre oder ein anderer Winkel bringt die Lösung. Trainiert wird hier auch Resilienz: die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit oder eines Projekts gewinnbringend zu nutzen.
„Ein wichtiges Anliegen beim Erfinden ist mir persönlich“, sagt Stefan Heuss, „dass man einen lockeren Umgang mit dem handwerklichen Scheitern bekommt. Es ist völlig normal, wenn nicht alles beim ersten Mal klappt und man nicht alles kann. Man erfindet, indem man herausfindet, woran man genau gescheitert ist und das dann optimiert. In der Praxis geht es aber darum, dass man eine Lösung entwickelt. Gespräche mit Ingenieuren über solche Prozesse haben mir bestätigt, bei ihnen ist es nicht anders, irgendwann gilt: ,Probiärä statt studiärä‘. Dies ist das Motto für das Finden von Lösungen.“
Erste Erfolgserlebnisse
„Herr Heuss, schauen Sie, die Kugel rollt!“ Erste Erfolgserlebnisse stellen sich ein. Durch die Lösungsansätze anderer Kinder und dem sich gegenseitig Vorstellen der eigenen Lösungen entwickeln alle ihre Ideen weiter – und plötzlich sind alle mitten im Erfinden drin.
Knapp sechzig Kinder bauen an verschiedenen Kugelbahnen. Aus Elektroschläuchen, Plastik- und Kartonrohren, Schachteln, Pappbechern und riesigen alten Waschmaschinenkisten entstehen so besondere Kunstwerke. Einige bauen geschickt und geplant, andere finden dank mehreren Versuchen und Irrtümern eine Lösung. Überall liegt Rohmaterial herum. Und die Kinder kleben mit Maler-Klebeband, Gaffa-Klebeband und anderen Hilfsmitteln riesige Gebilde zusammen. Ziel ist es, eine Kugelbahn mit Tricks zu realisieren.
Übungsfelder
Inspiriert wurden die drei Klassen von einem Ausschnitt aus dem Film „Der Lauf der Dinge“ von Fischli/Weiss, den sich alle gemeinsam am Morgen angeschaut haben. Die Arbeiten an den Kugelbahnen sind Übungsfelder, damit das Kulturprojekt „Büro für Ideen und Lösungen“ gut trainiert in Fahrt kommt.
Stefan Heuss und die Lehrerinnen und der Lehrer stehen den Kindern beiseite, animieren, helfen, eine Idee anders anzudenken, und alle suchen gemeinsam nach Lösungen.
Die Erfindungen stehen im Mittelpunkt des innovativen und künstlerischen Prozesses, der den Teilnehmenden auch nachhaltige Erfahrungen im Bereich Physik, Chemie, Natur und Konstruktion ermöglicht. Die klassischen Fächer vermischen sich. Verwendet wird vorwiegend Abfallmaterial oder wiederverwendbares Material von Baustellen, Schrottplätzen und anderen Orten. So wird unterschwellig auch auf die Themen Recycling, Naturschutz und Entsorgung eingegangen.
Zahlreiche Ideen
Für die kommenden Wochen und Monate hat sich das Team viel vorgenommen. Neben einer grossen Kugelbahn sollen beispielsweise Fahrzeuge für den Pausenplatz entwickelt werden. Und der längst pensionierte Velomechaniker Fritz Lüscher – er hat seine Werkstatt in der Nachbarschaft – hilft mit, diese zu realisieren. Andere Klassen wurden aufgefordert, Wünsche abzugeben. Einige fanden die Idee toll, einen Lift für die schweren Schultaschen zu realisieren, damit man sie nicht bis in den zweiten Stock hochtragen müsse, Mädchen wünschen sich einen Dispenser für Haargummis. Eine Klasse möchte eine automatische Abfallmaschine für den Pausenplatz. Letzteres wird realisiert, wenn auch nicht ganz automatisch. Aber immerhin fährt der selbstgebaute Abfallwagen der Schule in Zukunft mit einem Motor. Die Kinder haben Vorschläge in ihr Erfinderbuch gezeichnet. Aus diesen Plänen entstehen in den kommenden Wochen weitere Fahrzeuge für den Pausenplatz. Abgeschlossen wird das Projekt im Juli 2023 mit einem grossen Wasserspiel auf der Haselwiese. Die Feuerwehr Spreitenbach hat bereits alte Feuerwehrschläuche gespendet…
Dieser Ideenreichtum und die Energie sind ansteckend. Für die Projektwoche hat nun das gesamte Team im Schulhaus das Thema „Erfindungen“ gewählt. Für Stefan Heuss gibt es also sehr viel zu tun. Bei einer der vielen Projektsitzungen wurde diskutiert, ob man das Projekt „Büro für Ideen und Lösungen“ nicht auf zwei Jahre ausbauen oder gleich als neues Schulfach in den Lehrplan 21 aufnehmen könnte. Ideen hat das Team viele – an den Lösungen wird noch gearbeitet.
Stefan Heuss ist Sohn eines Frankiermaschinen-Händlers und einer Büromaterial-Einkäuferin. In frühster Jugend galt sein Interesse vor allem Lego und Fischertechnik. Als dieses dann irgendwann erlahmte, machte er eine Gärtnerlehre und absolvierte eine Theaterschule. Er gründete ein Gartenbauunternehmen und begann gleichzeitig, verschiedene Theaterstücke zu produzieren. Mit dem Komikerduo „Hepp und Heuss“ gewann er 2002 den Appenzeller Kabarettpreis „Goldige Biberfladä“.
Für das Duo „stahlbergerheuss“ mit Manuel Stahlberger begann er irrwitziges Bühnenequipment zu basteln. 2005 wurden sie mit der Produktion „Musik und Mechanik“ für den Schweizer Kleinkunstpreis nominiert, und mit dem Schweizer Innovationspreis „Surprix“ ausgezeichnet.
Ab 2009 ist Stefan Heuss als Erfinder fester Bestandteil der Sendung Giacobbo/Müller und entwickelt eine eigene Kleinkunstshow: „Die grössten Schweizer Patente“.
Stefan Heuss erfindet stetig neue unnütze, aber witzige Maschinen und begeistert die Öffentlichkeit. Seit ein paar Jahren begrüsst er Schulklassen in seinem Atelier in Dietikon und zeigt hier seine Erfindungen.
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