Die Lehrperson reist mit ihrer Klasse an einen unbekannten Ort, an dem eine Geschichte wartet, die auf ihre ganz eigene Weise erzählt wird. Die Begegnung mit dem Stück klingt bei allen Reisenden individuell an, auch bei der Lehrperson. Der Theaterbesuch wird also zu einem Erlebnis mit allen Sinnen, das die Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrperson in gleichem Masse überrascht, berührt und in Bewegung bringt.
Der Raum
Bereits der Theaterraum aktiviert unsere Wahrnehmung für das, was da gleich kommt. Was ist auf der Bühne schon zu sehen vom Bühnenbild? Ob ich wohl in der ersten Reihe sitzen darf? Ist mir meine Sitznachbarin sympathisch? Und wonach riecht es hier überhaupt? Innerhalb von wenigen Minuten stellen wir uns auf die neue Situation ein und sind schliesslich vorfreudig, leicht angespannt oder zum ersten Mal verärgert, weil die Sitznachbarin nicht die gewünschte ist, wenn das Spiel auf der Bühne beginnt.

Das Stück
Und dann lassen wir uns in den Möglichkeitsraum des Stücks ziehen und erleben eine Geschichte mit allen Sinnen. Auf unterschiedlichsten Ebenen erzählen uns die Figuren auf der Bühne: mit Sprache, Licht, Bildern, Bewegung und Ton. Mal schnell, mal langsam, mal laut, mal leise verweben sie ihren Stoff zu einem Stück. Und dem Publikum stellen sich viele Fragen: Was macht das mit mir? Ist es mir wohl dabei? Fühle ich mich verloren? Komme ich noch mit? Und: Warum machen die das so?

Reiseleitung gesucht
Ein Theaterbesuch ist ein Wagnis. Oft kennt die Lehrperson das Stück nicht im Voraus und entscheidet sich aufgrund eines kurzen Beschriebs für eine Inszenierung. Sie weiss also nicht viel mehr als ihre Klasse, wenn sie den Theaterraum betritt. Dennoch hat die Lehrperson als Reiseleitung eine Vielzahl an Möglichkeiten, ihre Klasse auf den Vorstellungsbesuch vorzubereiten. Das Sprechen über den Raum, die Spielregeln im Theater oder wie das mit der Sitzplatzwahl genau ablaufen wird, sind erste Vorbereitungen, die den Kindern Sicherheit vermitteln. Um die Begegnung mit dem Stück vorzubereiten, lohnt es sich, mit der Klasse über Erwartungen, Wissen und Erleben zu sprechen: Jede Person erlebt im Theater etwas anderes, dabei gibt es kein richtig oder falsch. Und es ist in Ordnung, sich manchmal dem Geschehen auf der Bühne ganz nah zu fühlen und in anderen Momenten irritiert zu sein und sich verloren zu fühlen. Spannend wird es, wenn wir im Anschluss über diese unterschiedlichen Erfahrungen in einen Austausch kommen können und so erkennen, dass wir zwar im selben Boot gesegelt sind, aber trotzdem Unterschiedliches erlebt haben.

Viele Produktionsgruppen bieten theaterpädagogisches Begleitmaterial an, das es den Lehrpersonen ermöglicht, die Schülerinnen und Schüler bereits inhaltlich und formal auf die gemeinsame Reise vorzubereiten. So können Themen im Vorfeld diskutiert werden und ein Resonanzraum entsteht, in dem das Stück für die Klasse anklingen kann. Habe ich mich beispielsweise schon im Voraus mit meinen Vorstellungen von Liebe, Geschwisterbeziehungen oder Zukunftsängsten beschäftigt, werden diese Inhalte auf der Bühne für mich zugänglicher. Weiss ich, dass auf der Bühne zeitgenössischer Tanz gezeigt wird, dass da ein Musiker ist, der live für uns spielt, oder die eine Schauspielerin ständig ihre Rolle wechseln wird, kann ich dies mit bewussterem Blick beobachten und wahrnehmen.
Möglichkeitsräume erfahren
Ein Theaterbesuch ist eine Reise in einen Möglichkeitsraum. In diesem Raum wird eine Geschichte oder ein Thema auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Form verhandelt. In verdichteter Weise, zeitlich komprimiert erleben wir, wie ein Thema bearbeitet wird, wie eine Geschichte erzählt wird, wie Bühne und Menschen einen Raum eröffnen, in dem das Nachdenken über uns und die Welt passieren kann. Ein Theaterstück ist nicht eindeutig. Die Begegnung mit dieser Mehrdeutigkeit ermöglicht uns, individuelle Anknüpfungspunkte zu finden. Im Austausch darüber erleben wir so, dass es verschiedene Betrachtungsweisen einer Geschichte, unserer gemeinsamen Reise und der Welt gibt. Und erkennen, dass auf dieser Reise vielleicht sogar etwas Neues entstanden ist: eine neue Perspektive, ein neuer Gedanke, eine neue gemeinsame Erinnerung.

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