Partizipatives Arbeiten fordert von allen Beteiligten eine Menge: Zusammenarbeiten können, sich auf offene Prozesse einlassen, über einen langen zeitlichen Rahmen den Bogen halten und zu einem schlüssigen Ende kommen. All das scheint an einer Sonderschule für Kinder mit Autismus-Spektrum- und ADHS-Diagnosen besonders schwierig zu sein, weil die benötigten Fähigkeiten dazu bei diesen Schülerinnen und Schülern oft wenig ausgeprägt sind, zumal in ihrer Kombination und über ein ganzes Schuljahr hinweg. Wie also kann Partizipation an der Sonderschule gelingen? Diese Frage stand im Zentrum des Projekts waldMITwirkung (Idee und Konzept von Jeannine Hangartner).
Ein Schuljahr voller Wald, Verwandlung und kreativen Prozessen
Im Schuljahr 2020/21 machten sich die drei „Teiche“ der Mittelstufe auf den Weg. Der Wald am Hang oberhalb der Schule wurde als neuer Lernort eingerichtet und etabliert. Dort draussen fanden im Zwei-Wochen-Rhythmus Workshops mit verschiedenen Kunstschaffenden statt: Trommeln und Drucken, Filmen und Modellieren von Waldmaterial, Theaterexperimente und Schnitzen. Die Schülerinnen und Schüler lernten Techniken kennen, um den Wald zu erkunden und ästhetisch zu verarbeiten. Mit diesen Erfahrungen im Rücken entschieden sie gemeinsam über die Medien, mit denen sie sich auf ein länger gespanntes Projekt einlassen wollten: Schattentheater und Video. Auf dieser Reise verwandelte sich vieles: das Schulhaus in magische, gruselige und verspielte Wald-Orte. Die Schülerinnen und Schüler in kreativ Schaffende, die die Richtung des Projekts vorgaben. Die Erwachsenen in Komplizinnen und Komplizen, die ihre eigene Lust am kreativen Schaffen entdeckten. Am Ende stand eine echte Premiere mit einem eineinhalbstündigen Stationenrundgang und die Erfahrung, dass Partizipation an der Sonderschule geht – nämlich unter bestimmten Voraussetzungen und mit Achtsamkeit auf bestimmte Aspekte.
„Neue Autorität“ als Grundhaltung der Partizipation
Die Bedingungen in Klingnau waren günstig. Hier wird bereits seit einigen Jahren mit dem Konzept der „Neuen Autorität“ von Haim Omer gearbeitet, das auf Autorität durch Beziehung setzt. Denn Kinder müssen sich grundsätzlich sicher und wohl fühlen, damit es für sie möglich wird, sich auf Unvorhergesehenes, auf Forschungen, auf Projekte mit offenem Ausgang einzulassen. Die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sind elementar und sie entstehen aus Interesse, Präsenz, Ernstnehmen, Fokussierung auf die Stärken und Wertschätzung. Die Kinder in etuna st. johann sind also schon geübt darin, gesehen und erst genommen zu werden, eigene Ziele zu formulieren, mitentscheiden zu dürfen und zu reflektieren.
Die Erwachsenen wiederum sind nah an den Kindern dran, sie beobachten genau und merken so, ob es den Kindern wohl ist, wo sie aufblühen, wo ungeahnte Möglichkeiten zum Vorschein kommen, wo nachgefragt oder unterstützt werden muss, wo Konflikte schwellen und wo es Widerstand braucht. Auch im „normalen“ pädagogischen Alltag üben die Erwachsenen sich darin, sich selber wahrzunehmen, die eigene Position, das eigene Verhalten und Bewerten zu beobachten und zu reflektieren. Diese bereits eingeübte Praxis unterstützte im Projekt ganz wesentlich, Partizipation umzusetzen.
Partizipation ist eine Methode
Denn Partizipation zu schaffen erfordert eine Vielzahl von situativ eingesetzten Techniken auf allen Ebenen der Haltung und des Handelns – von der Rahmung bis zur Ausgestaltung einzelner Arbeitseinheiten. Die Arbeit an der Sonderschule verlangt nun einen ganz besonders präzisen Einsatz dieser Techniken und ist damit eigentlich nicht anders, sondern nur unerbittlicher gegenüber den Projektleitenden. Es braucht in jedem Moment Genauigkeit – in der Beobachtung, in der Reflexion, in der Umsetzung.
Wir haben eine Reihe von Schlüsselstellen identifiziert, die für das Gelingen unseres partizipativen Prozesses besonders wichtig waren:
- Bedürfnisse erkennen: Viele Sonderschülerinnen und Sonderschüler können ihre Bedürfnisse und Ideen manchmal nur schwer formulieren. Deswegen braucht es viele verschiedene Angebote, damit sie sich einbringen können – Sprache allein reicht bei weitem nicht aus. Wir haben eine Vielzahl von Methoden verwendet, die alle Sinne einbezogen und verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten gaben.
- Orientierung geben: Sonderschülerinnen und Sonderschüler werden bei Unregelmässigkeiten im Ablauf, in Umgebungen mit vielen Personen und einem hohen Lärmpegel stark gefordert. Oft brauchen sie eine Einzelbetreuung und immer ein gutes Vertrauen in verlässliche Bezugspersonen. Um den Schülerinnen und Schülern auch in einem offenen Prozess Orientierung zu geben, ist eine klare Strukturierung sehr wichtig. Rituale im Tagesablauf wirken unterstützend, die Visualisierung des Tages oder des Prozesses fördert den Halt, eine inhaltliche Rahmenhandlung bindet über längere Zeiträume zusammen.
- Selbständigkeit entwickeln: Mitwirkung und Mitbestimmung in einer strukturierten Lernumgebung geben den Kindern Orientierung und bieten gleichzeitig die Freiräume, um eigene Ideen zu entwickeln und sie mit Unterstützung der Erwachsenen in eine Form zu bringen. Immer wieder muss das Ausmass der Mitbestimmung neu gefasst werden, um die Balance zu halten zwischen Offenheit, die schnell überfordernd wirkt, und Definition des Prozesses durch die Erwachsenen, was die Selbständigkeit der Kinder unterminiert.
- Gemeinsam arbeiten: Ein partizipativer Prozess erfordert, dass alle – Kinder ebenso wie Erwachsene – mit hoher innerer Beteiligung dabei sind und sich mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Kreativität einbringen. Nicht nur die Kreativität der Schülerinnen und Schüler ist gefragt. Erst wenn auch die Erwachsenen mit allen Sinnen ins kreative Schaffen kommen, entsteht ein gemeinsamer Sog, der das Projekt stützt und trägt.
- Kreative Prozesse anregen: Zunächst ging es um das Anregen kreativer Prozesse durch Übungen und kleine praktische Einheiten, die von der direkten sinnlichen Erfahrung ausgehen. Um dann vom kreativen Schaffen zu einer gemeinsamen Gestaltung zu gelangen, wurde die „Kunst“ wichtig. Und zwar in Form von professionellen Kunstschaffenden, welche die kreativen Prozesse zuspitzten und halfen eine Form herauszuarbeiten.
- Zumutung aushalten: Neues, Unbekanntes, Projekte können eine Zumutung sein, gerade für Autistinnen und Autisten. Es entsteht ein Spannungsfeld: Wo beginnt ein „zu viel“ an Partizipation für solche Kinder oder wie können wir genügend Orientierung und Struktur geben, damit autistische Kinder die Offenheit eines partizipativen Projekts aushalten und an ihr wachsen können?
- Energien haushalten: Partizipative Projekte sind Energieschleudern. Sie erfordern ein ungeheures Mass an Engagement, Zeit und Kraft. Dies betrifft die Schülerinnen und Schüler, insbesondere wenn sie – wie an der Sonderschule – Mühe haben, sich auf offene Prozesse oder gruppendynamische Herausforderungen einzulassen. Besonders betrifft dies aber die Lehrpersonen, die solche Projekte zusätzlich zu ihrem Unterrichtsalltag stemmen. Partizipative Projekte sind immer eine grosse Zusatzbelastung, das müssen alle Beteiligten von Beginn an wissen und aushalten.
- Reflexion etablieren: Ein Partizipationsprojekt an der Sonderschule erfordert besondere Genauigkeit. Und die muss gefunden und geübt werden. Daher ist die regelmässige und gut strukturierte Reflexion der Projektverantwortlichen so wesentlich, um Beobachtungen auszutauschen und abzugleichen, Methoden zu präzisieren und den Gesamtbogen der Mitwirkung zu halten. Reflexion muss von Beginn an als wesentlicher Bestandteil aller Projektphasen mitgedacht, budgetiert und kommuniziert werden.
Mitwirkung in die Schule tragen
Wir haben es in waldMITwirkung erneut erfahren: Partizipation bedeutet Aufwand. Verschiedene Meinungen und Ideen zu sammeln, zu sortieren, auszuwerten und einzubeziehen beziehungsweise umzusetzen, verlangt Zeit und Geduld. Gerade in einer Sonderschule, an der die Kommunikation nicht immer einfach ist, braucht es geeignete Methoden, um Partizipation zu leben. Am einfachsten geht dies, wenn ein definiertes Projektformat vorliegt und der Rahmen bereits gesteckt ist. Partizipation kann jedoch auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formaten gelebt werden. An der Schule geben die Erwachsenen sehr viel vor, was doch letztlich die Kinder betrifft. Aber müssen die Lehrpersonen wirklich alles allein entscheiden? Könnten die Kinder nicht viel häufiger einbezogen werden? Um mit Kindern partizipativ zu arbeiten, braucht es am Anfang sicherlich viel Aufwand und Geduld. Doch es zahlt sich aus: Partizipation kann geübt werden. Sie kann unsere Schulen verändern, sie durchlässiger und inklusiver machen.
Die Projektverantwortlichen haben ihre Erfahrungen in einem Arbeitsmaterial gebündelt, das allen Interessierten frei zur Verfügung steht. In zehn – teils herausfordernd formulierten – Thesen spannen sie ihre partizipative Arbeitsweise facettenreich auf und geben Impulse um über das eigene Arbeiten mit Partizipation nachzudenken. Das Kartenset kann heruntergeladen werden und soll Inspiration bieten, um selbst mehr Partizipation zu wagen – an der Sonderschule und weit darüber hinaus.
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