Im Aussenzimmer
Die Tür zur neuen Ausstellung öffnet sich, es ist stockdunkel. 22 Schülerinnen und Schüler betreten nacheinander vorsichtig und neugierig den Raum. Zunächst nur mit Taschenlampen erkunden sie, was sich ihnen zeigen wird, wenn das Licht angeht.
Das explorative Lernsetting stellt sinnliche Erfahrungen und differenzierte Wahrnehmung als Ergänzung zum Schulzimmer in den Mittelpunkt. Überfachliche Kompetenzen des Lehrplans 21 werden gemeinsam geübt. Kunst bietet den Kontext, steht aber nicht im Fokus. Um die häufigen Besuche möglich zu machen, führen die Lehrpersonen mit vorgestalteten Programmen nach und nach selbständig Sequenzen im Aussenzimmer durch. Einzelne Übungen werden immer wieder angewandt und so zu erprobten Ritualen. Anhand von Videoscreenings begrüsst das Projektteam die Klassen und leitet einzelne Übungen auch direkt an, so dass das Team als Gastgeberin präsent ist. Auch die jeweils ausstellenden Kunstschaffenden wenden sich per Video an die Besucherinnen und Besucher und geben kurze Einblicke in ihr Schaffen und ihre Ateliers.
Gleich um die Ecke
48 Kinderhände ertasten sorgfältig den lehmig-steinigen Boden im Zimmermannhaus. Der Raum hat sich komplett verändert seit dem letzten Besuch. Es ist unerwartet still, eine neugierige Spannung liegt in der Luft.
Sehr grosses Potenzial sehen wir in der räumlichen Nähe von Stapfer-Schulhaus und Zimmermannhaus. So können die Lehrpersonen jede Ausstellung unkompliziert und niederschwellig mit ihren Klassen besuchen.
Die Kombination von wiederkehrenden Formaten und wechselnden Inhalten erwies sich in unserem Pilotprojekt als sehr gewinnbringend. Die bereits bekannten Räumlichkeiten und die ritualisierten Übungen fungieren als Ankerpunkte, geben allen Beteiligten Sicherheit und Struktur und schaffen damit auch Vertrauen. Im Vorfeld haben einige Lehrpersonen angemerkt, dass auffällige Kinder an ausserschulischen Lernorten vermehrt stören. Gerade diese Kinder profitieren davon, dass der Besuch immer ähnlich strukturiert ist und sie durch das Aussenzimmer-Setting dennoch jedes Mal wieder neu stimuliert werden. Die jeweils sehr anders gestalteten Innenräume laden ihrerseits sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrpersonen ein, sich auf Neues und Ungewöhnliches einzulassen, wohldosiert auch ihnen unbekannte Methoden auszuprobieren, sich ins Verhältnis zum Erwarteten und Erlebten zu setzen und ihr Denken innerhalb der gegebenen Struktur zu reflektieren.
Verankerung im Alltag
Eine Woche nach dem Ausstellungbesuch flattert eine Postkarte mit dem Rezept der verwendeten Eitempera in die Klassenbox im Stapferschulhaus. Im Mathematikunterricht berechnen die Kinder die erforderliche Menge an Zutaten, die sie für die ganze Klasse einkaufen möchten.
Durch die Nachbarschaft der beiden Institutionen Schule und Zimmermannhaus kommen viele der Schülerinnen und Schüler auch im ausserschulischen Alltag in Berührung mit dem Zimmermannhaus. So werden ihnen das Format des Aussenzimmers und die damit verbundenen Erfahrungen immer wieder ins Gedächtnis gerufen und lebendig gehalten. Dieses Prinzip der Verankerung setzen wir auch im Schulhaus ein: Der „Blick ins Aussenzimmer“, ein zum Zimmermannhaus gerichtetes Periskop, ermöglicht auch vom Schulhaus aus partielle Einblicke. Mit den „Erinnerungen ans Aussenzimmer“ erhalten alle Klassen im Anschluss an ihren Besuch ein stellvertretendes Objekt, das sie in einem Setzkasten in ihrem Schulzimmer aufbewahren.
Gemeinsames Entwickeln
Eine Schulklasse steht im Hof des Zimmermannhaus im Kreis. Reihum sagt jedes Kind laut und deutlich ein Adjektiv, das ihm in Bezug auf die letzte Ausstellung einfällt und klatscht danach. Eine Wortskulptur als Nachhall entsteht.
Die stark nutzerzentrierte Entwicklung des Projekts halten wir für essentiell für das Gelingen von Aussenzimmer. Das Projektteam ist mit Kunstschaffenden, Vermittlungsfachpersonen, Kuratorinnen und Kuratoren wie auch Lehrpersonen und Eltern von Schulkindern interdisziplinär zusammengesetzt. Den Prototypen entwickeln wir prozessoffen und in mehreren Zyklen und treffen uns dazwischen immer wieder mit den Lehrpersonen und den Schülerinnen und Schülern zum Austausch. Diese partizipative Erarbeitung ist zum einen befruchtend, zum anderen ressourcenintensiv. Vom Projektteam sind immer wieder Feingefühl und Offenheit für Ansätze gefragt, die nicht direkt den Zielen des Projekts entsprechen; ebenso die Prämisse, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten für Unterricht mitgestaltend einzubeziehen.
Zwischengedanken
Ein solches Projekt kann dann langfristig gelingen, wenn alle Projektbeteiligten die Bereitschaft mitbringen, sich auf Neues einzulassen, Ideen nicht gleich von Anfang an zu verwerfen, sondern sie weiterzudenken, auszuprobieren und sowohl aus vermittelnder, künstlerischer wie auch Perspektive der Schülerinnen und Schüler zu reflektieren. Dieselbe Offenheit, aber auch Verbindlichkeit ist von Seiten der beteiligten Institutionen und Förderstellen gefragt. Sich gemeinsam auf unsicheres Terrain zu begeben und dafür trotz unbekanntem Ergebnis die benötigten Ressourcen und eine unterstützende Ausgangslage zu schaffen, ist Grundvoraussetzung, damit das Potenzial von Projekten wie Aussenzimmer überhaupt aktiviert werden kann: Nämlich dass künstlerische und kreative Ansätze zu einem selbstverständlichen Teil des Unterrichts werden und die Beteiligten Lust und Mut entwickeln, der Welt neugierig und hinterfragend zu begegnen wie auch eigenständig zu denken und zu handeln.
Als île flottante (www.ileflottante.ch) realisieren Andrea Gsell und Nica Giuliani seit 2003 Kunstprojekte vorwiegend im öffentlichen Raum, in deren Fokus reale und imaginäre beziehungsweise imaginierte Räume stehen. Das Künstlerinnenduo arbeitet immer wieder mit Schulen zusammen und interessiert sich für das Potential der Schnittstelle von Kunst & Schule. So entwickelten sie das Kunstvermittlungsprojekt „Stadtereignisse“ für Jugendliche im öffentlichen Raum und setzten es 2016 zusammen mit Lilian Beidler erstmals mit 140 Schülerinnen und Schüler in Brugg, später in Aarau um. 2017 waren île flottante als „Artists in Residence“ an der Primarschule Laufenburg zu Gast.
Gefällt Ihnen dieser Artikel? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter um stets über neue Blogbeiträge informiert zu sein.