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Kulturvermittlung in der Grossen Transformation

Wir hören es von allen Seiten und wir spüren es im ansteigenden Takt der Katastrophenmeldungen: Die Veränderung ist im Hier und Jetzt angekommen. Nachhaltige Entwicklung bedeutet nicht, dass wir uns heute darum bemühen, damit es morgen und übermorgen noch gut ist – nein, es geht bereits um das jetzige Leben. Denn wir stecken mitten in einer grossen Transformation mit ungewissem Ausgang.

Jugendlicher kniet im Wald am Boden und spinnt mit rotem Faden ein Netzt.
Das Projekt waldKULTURwald von Jeannine Hangartner entstand in Zusammenarbeit mit der Klasse Sek 2a der Oberstufe Schachen in Aarau und Kulturschaffenden aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Jugendlichen lernten anhand von zeitgenössischem Kulturschaffen unterschiedlichste Zugänge zum Wald kennen.

Mit allem, was wir tun, und ganz besonders mit dem, was wir in pädagogischen Zusammenhängen vermitteln, tragen wir fördernd oder hemmend, beschleunigend oder bremsend dazu bei. Die Kulturvermittlung bringt ein besonderes Potential dafür mit, die Veränderung nicht über sich hereinbrechen zu lassen, sondern ihre Gestaltung in die eigenen Hände zu nehmen.

Vom wirtschaftlichen Kalkül zur grossen Idee für das 21. Jahrhundert

Für unsere industrialisierten Gesellschaften bedeutet „nachhaltige Entwicklung“ eine einschneidende Veränderung der Lebensweise: Wir müssen unseren Ressourcenverbrauch drastisch reduzieren und von allem viel, viel weniger verbrauchen – eben nur so viel, wie auch „wieder nachwächst“. Das formulierte schon der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der gemeinhin als Urheber des Begriffs „Nachhaltigkeit“ gilt. Anfang des 18. Jahrhunderts verfügte er, dass pro Jahr nicht mehr Holz geschlagen werden soll, als auch wieder nachwachsen kann. Damit sollte die Wirtschaftskrise abgewendet werden, die Sachsen und ganz Europa durch den „Holzhunger“ drohte. Der vernünftige Umgang mit natürlichen Ressourcen sichert demnach die Existenz der Menschen zusammen mit dem Ökosystem, von dem sie leben.

Zwei Jugendliche mit einer Kamera im Wald. Im Hintergrund ein aufgespanntes Foto von Baumstämmen.
Im Rahmen des Prozessor-Projekts waldKULTURwald lernten die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe Schachen in Aarau anhand von zeitgenössischem Kulturschaffen unterschiedlichste Zugänge zum Wald kennen. Foto: Jeannine Hangartner

Die Industriegesellschaften haben dieses Kalkül nicht beherzigt, wie wir wissen. Sondern, im Gegenteil, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen im globalen Massstab intensiviert. Ab den 1960er Jahren wurden die katastrophalen Folgen dieser unmässigen Wirtschaftsweise – Umweltkrise und Armut – immer deutlicher benannt und in Zusammenhang gebracht (vgl. de Haan 1999). Seither setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass unser Handeln an „Grenzen des Wachstums“ (vgl. Meadows und Club of Rome 1972) gebunden ist, wenn wir unsere Existenz sichern und ein würdiges Leben für alle Menschen auf diesem Planeten ermöglichen wollen – und zwar auch für diejenigen, die nach uns kommen. In der berühmten Definition der „Nachhaltigen Entwicklung“ durch die sogenannte Brundtland-Kommission wird dieser Zusammenhang als aktualisierter kategorischer Imperativ formuliert:

„Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“

World Commission on Environment and Development 1987

Die Definition gibt uns einen Kompass an die Hand, woran wir unsere Handlungen bemessen sollen. Das macht sie so allgegenwärtig und erfolgreich (vgl. Grunwald 2016). Allerdings sagt sie uns nicht, was genau wir tun müssen, um im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zu handeln. Und natürlich gibt es davon ausgesprochen unterschiedliche Vorstellungen. Das lässt sich derzeit in Debatten um den Klimaschutz gut beobachten, in denen um den richtigen Weg zu nachhaltiger Entwicklung zunehmend heftig gestritten wird.

Von Optimierungsversuchen zu grundlegender Veränderung

In der politischen Debatte dominiert das Motto „Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass“. Ja, wir wollen ökologischer werden, aber es soll unsere Art zu leben nicht allzu sehr einschränken. Entsprechend sind Ansätze zur Effizienz-Steigerung und technologische „Lösungen“ hoch im Kurs. Dabei geht es darum, Gegebenes besser zu nutzen, beispielsweise durch langlebige, recyclingfähige Produkte und energieeffiziente Technologien oder durch technologische Basis-Innovationen wie die Umstellung auf erneuerbare Energieversorgung, damit sich unsere Stoff- und Energieströme reibungsfrei und rückstandsfrei in die umgebende Umwelt einfügen. Beide Strategien sind wichtig und haben ihre Berechtigung. Aber beiden sind das Ziel und der Wunsch gemein, das Wohlstandsniveau zu halten und die dominante Wirtschafts- und Lebensweise möglichst wenig zu verändern.

Die alternative „Suffizienz-Strategie“ dagegen setzt auf eine Veränderung der Mentalität hin zu freiwilliger Selbstbegrenzung. Dabei kommen institutionelle und kulturelle Dimensionen in den Blick, beispielsweise wie wir das „gute Leben“ überhaupt bemessen und was wir dafür brauchen. Die Suffizienz-Strategie erkennt an, was das moderne Konzept der Nachhaltigkeit im Kern aussagt: Dass nämlich die ökologische Krise zusammen mit sozialen Krisen wie Hunger oder Bedrohung von Freiheits- und Menschenrechten und den ökonomischen Krisen wie Perspektivlosigkeit oder Armut zusammenhängt. Sie sind Facetten einer grossen Metakrise, in deren Zentrum wir selbst stehen mit unserer gesamten Art zu denken, zu empfinden und zu handeln. Und deswegen können die Ansätze zur Bewältigung der ökologischen Krise auch nicht allein in technisch-organisatorischen Massnahmen liegen. Sie liegen in uns selbst. Wir müssen anerkennen, dass wir kein verwaltendes Gegenüber des planetaren Ökosystems sind, sondern ein Teil davon. Und dass wir zur Bewältigung der Krise also nicht einfach nur vernünftiger handeln müssen, sondern unsere Vernunft selbst sich verändern muss.

Kunstwerke ausgebreitet auf dem Waldboden.
Der Wald wurde auch im Prozessor-Projekt waldMITwirkung von Jeannine Hangartner, Wanda Wieczorek und der Sonderschule St. Johann in Klingnau zum ausserschulischen Lernort. Foto: Barbara Klaesle

Seit den 2010er Jahren gewinnt dieses Bewusstsein an Bedeutung. Es ist eine neue Entschlossenheit wahrzunehmen, die Ursachen für nicht-nachhaltige Entwicklungen grundsätzlich anzugehen und sich nicht mit oberflächlichen Verbesserungen zufriedenzugeben. Allzu deutlich wird dies, wenn junge Menschen mit steigender Vehemenz und Verzweiflung ihre Rechte als kommende Generation einzuklagen versuchen. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion nehmen solche Beiträge zu, die das Narrativ gesellschaftlicher Entwicklung zu verschieben suchen: Weg von der Überwindung natürlicher Begrenzungen durch Beherrschung – dem Hauptmotiv der Industrialisierung – hin zu einer Wieder-Einbettung in unser Ökosystem, in der wir die Grenzen des Erdsystems als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklung akzeptieren und diese Entwicklung im Einklang mit der Natur stattfindet (vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2011). Dafür steht das Konzept der Grossen Transformation. Es bezeichnet eine umfassende Veränderung, die unsere wirtschaftliche Grundlage, das soziale Miteinander und unser Verhältnis zum Naturraum betrifft.

By Disaster or by Design?

Aber wie kann es uns nun gelingen, diese Grosse Transformation zu gestalten – nicht die Katastrophe entscheiden zu lassen, sondern uns selbst zur Verwandlung zu entschliessen und zu befähigen? Nachhaltige Entwicklungen sind von veränderten Einstellungen, Handlungsfähigkeiten und Tätigkeiten abhängig. Diese Veränderungen werden – wo und wie auch immer – durch Lernprozesse erworben, in denen veränderte Orientierungen und Routinen entstehen. Das betrifft die Etablierung von neuen Lebensstilen und -gewohnheiten genauso wie Innovationen in Technik, Wirtschaft und Wissenschaft. Selbst die dauerhafte Akzeptanz einer Nachhaltigkeitspolitik durch die Bevölkerung setzt Lernprozesse voraus. Weil das so ist, spielt die Bildung in der Diskussion um nachhaltige Entwicklung von Beginn an eine wichtige Rolle und wurde seit der Agenda 21 ausdrücklich mitgedacht und als Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) ausformuliert.

In der BNE steht – anders als in der klassischen Umweltpädagogik, die auf die abschreckende Wirkung von Bedrohungsszenarien setzte – die Gestaltung im Vordergrund: Sie setzt auf die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten und neuen Lebensstilen in dem notwendig begrenzten Rahmen unseres Planeten. Denn nachhaltige Entwicklung erfordert, das Bestehende zu überwinden, andere Lebens- und Arbeitsweisen zu erfinden und neue Formen der Gemeinschaft zu konzipieren. Und das alles in einem hochkomplexen System, in dem viele Faktoren zusammenwirken und in dem wir oft nur ein kleines Stück weit absehen können, wohin eine Entscheidung uns bringt. BNE soll die Grundlage schaffen für „ein Leben-Lernen in Veränderungsprozessen und auch dafür ein Lesen-Lernen (Wahrnehmen und Deuten) der Veränderungen während sie verlaufen und ein Gestalten-Lernen dieser Veränderungen trotz Ungewissheiten im Wissen und trotz emotionaler Verunsicherungen über den Ausgang“ (Borner 2020).

Jugendliche trommeln mit Stöcken auf einem Baumstamm.
Im Prozessor-Projekt waldKULTURwald wurde die kulturelle Bedeutung des Waldes mit künstlerischen Mitteln erforscht, abgebildet und weitergestaltet. Foto: Jeannine Hangartner

Transformative Bildung

Eine solche „flexible Zielgerichtetheit“ ist Kulturvermittlerinnen und Kulturvermittlern durchaus vertraut. Denn wenn wir den Anspruch einer zeitgemässen und engagierten Kulturvermittlung verfolgen, dann befinden wir uns bereits mitten in dem, was zur „Transformativen Literacy“ (vgl. Schneidewind 2013) führt und ebenso in dem, was der Lehrplan 21 unter BNE versteht. Wir kennen es aus der eigenen Arbeit und wir können es in den Arbeitsprinzipien von Kultur macht Schule nachlesen: Es geht um zusammenhängendes, fächerübergreifendes Lernen. Um Fehlertoleranz und Scheitern-Können. Um Improvisations- und Handlungsfähigkeit trotz unklarer Bedingungen und ungewisser Ausgänge. Um Entscheidungen, die getroffen werden müssen, auch wenn viele Rahmenbedingungen unbekannt sind. Diese Fähigkeiten verlangen wir von uns als Vermittlerinnen, Vermittler und Kulturschaffende. Wir leben sie den Kindern und Jugendlichen vor und bringen sie ihnen bei.

Die Kulturvermittlung bringt also bereits vieles mit, was mit der BNE im ganzen Curriculum verankert werden soll. Und da wir mit allem, was wir tun, mittendrin sind in der Grossen Transformation – fördernd oder hemmend, beschleunigend oder bremsend – sind wir aufgefordert, uns zu positionieren und das Potential der Kulturvermittlung für die Gestaltung der Grossen Transformation gezielt zu nutzen. Das Gebot der Nachhaltigen Entwicklung gibt uns dafür die Orientierung. Wie wir es auslegen und welche Konsequenzen es für eine spezifische Situation hat, muss jeweils abgewogen und ausgehandelt werden. Besonders partizipative Projekte schaffen dafür einen Rahmen und öffnen den Raum, um dieses Aushandeln zu üben.

Zwei Kinder stehen mit dem Rücken zur Kamera an einem Baum und zeichnen auf einem Blatt Papier.
Die Künstlerin Carmela Gander verwandelte 2021 ein Schulzimmer der Primarschule Umiken in ihr Atelier. Inspiration der Residenz war der Wald. Foto: Jonas Studer

Inhaltlich können wir uns an den bekannten Strategien zur Reduktion von Ressourcenverbrauch orientieren:

  • Effizienz – Vorhandenes besser nutzen: Im Kulturbetrieb wird derzeit immer stärker auf die Betriebsökologie geblickt. Das Potential für Einsparungen ist gross und mittlerweile gibt es dazu etliche Handreichungen und Leitfäden [1]. Diese können für die eigene Projektarbeit genutzt und auch inhaltlich mit Schülerinnen und Schülern thematisiert werden.
  • Konsistenz – Zirkuläre Lebensweise zurückgewinnen: Neben der technischen Dimension hat Konsistenz eine lebensphilosophische Seite, da sie unsere verlorengegangene Einbettung in das Ökosystem betrifft. Diese grundlegende Frage des Menschseins wird in der Kunst derzeit wieder intensiv verhandelt, wie beispielsweise auf der letztjährigen documenta deutlich sichtbar wurde. Eine sehr anschauliche Annäherung ist noch bis Oktober 2023 in der Ausstellung „Natur. Und wir?“ im Stapferhaus Lenzburg zu sehen.
  • Suffizienz – Mit viel, viel weniger auskommen: Die Suffizienz-Dimension ist inhaltlich besonders interessant, da Postwachstums-Lebensstile (Sharing Economy, neue Esskulturen, Secondhandkleidung etc.) für die junge Generation attraktiv sind und medial bereits einige Präsenz gewonnen haben. In diesem Bereich scheint auch die Versuchung von Greenwashing besonders gross zu sein und damit der Bedarf nach gründlicher Reflexion und kritischer Auseinandersetzung mit diesen Lebensstilen.

Mit Kulturvermittlung die Transformation gestalten

In der aktuellen Diskussion um BNE werden viele Anknüpfungspunkte für die Kulturvermittlung formuliert. Einige möchte ich hier benennen, weil sie so prägnant auf die Praxis der Kulturvermittlung zugehen.

Beteiligung von Emotionen im Lernen

Die Forschung zu transformativem Lernen zeigt, dass das Denken von Zukunft in enger Wechselwirkung mit dem Fühlen von Zukunft stattfindet. Blicken wir aktuell auf Zukünfte und die Bedrohung menschlicher Lebensweisen, können sehr unangenehme Gefühle damit einhergehen. Unangenehme Gefühle sind aber die Grundlage für Vermeidungsverhalten. Wir greifen dann eher zu bewährten und bekannten Ansätzen, um die Spannung aufzulösen. Denn das Bekannte macht die Situation verstehbarer und dient dem Abbau der unangenehmen Emotion, auch wenn die vermeintliche Lösung untauglich ist und die Krise tatsächlich verstärkt. Demgegenüber gehen Menschen auf Situationen, mit denen sie positive Gefühle verbinden, mental offener ein. Positive Emotionen scheinen die Fähigkeit zu Perspektivwechsel und die mentale Integration diverser Handlungsoptionen zu unterstützen. Emotionen haben für transformative Prozesse zur Gestaltung von wünschenswerten Zukünften also einen besonderen Wert.

In der Kulturvermittlung haben der Spass, die Lust am Machen, die soziale Dynamik und das Ausbrechen aus der Alltagsroutine einen wesentlichen Anteil daran, dass die Beteiligten motiviert dabei sind. Positive Emotionen werden gerne und sofort in einem Satz mit Kulturvermittlung genannt. Es braucht aber auch den Raum für negative Gefühle und Konflikte – ganz besonders, wenn wir an Fragen nachhaltiger Entwicklung und an Entwürfen der Zukunft arbeiten. Die Kulturvermittlung kann dafür geschützte und bewertungsfreie Räume schaffen. Negative Emotionen können dort wahrgenommen, eine Weile ausgehalten und ergründet werden. Sodass die Beteiligten das Vertrauen aufbauen können, das es ihnen ermöglicht, das Risiko einzugehen, Dinge tatsächlich anders zu machen und mit Interesse und Begeisterung kreative und unkonventionelle Lösungen für wünschenswerte Zukünfte zu finden.

Buntbemalte Steine zwischen Tannenzapfen im Wald.
Der Theaterschaffende Andreas Bächli und der Künstler Daniel Bracher haben mit der Primarschule Mühlethal eine grosse Bandbreite künstlerischen Schaffens in der Natur erkundet. Foto: Yasser John

Gestalterische Fertigkeiten differenzieren und verbreiten

Bislang wurden Kinder und Jugendliche in den BNE-Dokumenten vor allem als Zielgruppe für Bildungsaktivitäten beschrieben. Mittlerweile jedoch mischen sich Jugendliche lautstark in die Diskussion um die klimafreundliche Gestaltung von Gesellschaft ein und werden auch in der BNE-Debatte zunehmend als initiative Akteure wahrgenommen. Sie nutzen dabei eine ganze Bandbreite von Kanälen, ganz besonders aber solche, die aus ihrer Alltagskultur kommen und von anderen Jugendlichen breit rezipiert und genutzt werden. Dabei sind sie äusserst eloquent und finden spezifische Formen in ihrem Mediengebrauch, aber auch in der Gestaltung von persönlichen Beziehungen, in Kleidung, Ernährungsgewohnheiten usw. Die Klimabewegung produziert ihre eigenen kulturellen Formen und zeigt, dass Jugendliche sich auf diesem Weg wirkungsvoll in das gesellschaftliche Narrativ einschreiben können.

Diese Kompetenz zur Reflexion und Gestaltung von alltagskulturellen Formaten ist für Jugendliche schon immer wichtig gewesen – wenn sie nun aber als politische Akteure gehört werden wollen, dann umso mehr. Dafür leistet die Kulturvermittlung eine Grundausbildung und trägt Sorge, dass diese Kompetenzen bei möglichst vielen Jugendlichen gut angelegt werden. Kulturvermittlung kann junge Menschen dabei unterstützen, ihre eigene Ausdrucksweise differenziert zu gestalten und zu modellieren. Das bedeutet auch, wie Jugendliche die gesellschaftliche Debatte um nachhaltige Entwicklung auf sich selbst beziehen, sich darin positionieren und ihren Selbstausdruck in diesem Licht gestalten. Das ist die Voraussetzung, um sich selbst wirkungsvoll in die gesellschaftliche Debatte einbringen zu können. Damit ist das immer komplexer werdende Thema Medienkompetenz angesprochen – lesen, dechiffrieren, selbst gestalten können. Und den Mut aufbringen, sich einzumischen.

Neue Narrative entwerfen…

Damit aus dem Nachdenken über die Zukunft die Gestaltung der Zukunft wird, brauchen wir eine lebendige und attraktive Vorstellung von dem, was da kommt. Erst die Bilder und Erzählungen von wünschenswerten Zukünften schaffen eine Sehnsucht danach, machen sie als ein gutes und besseres Leben fühlbar und laden sie gewissermassen mit einer Sicht der Ankunft auf. Wir wollen diese Zukunft, weil sie das schönere Leben bereithält. Solche Bilder und Erzählungen zu schaffen ist für nachhaltige Entwicklung zentral. Und hier liegt eine grosse Kompetenz der Kulturvermittlung.

Verschiedene Lebensmittel und Kräuter aus der Stadt werden mit Text- und Bildbeiträgen in einem Regal ausgestellt.
Die Initiative „Stadtmachtsatt“ von der Künstlerin und Kulturmanagerin Anja Fiedler brachte an Berliner Schulen künstlerische Strategien mit der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zusammen. Foto:

Aktuell bieten sich dafür besonders die Postwachstums-Lebensstile an. Immer mehr Initiativen und Projekte zeigen, wie der Verzicht auf Konsum und Wachstum gut gelingen kann – die Beispiele wie etwa Foodsharing, Co-Working, Leihlokale, Repair Cafés, Upcycling-Börsen sind bekannt. Ihnen gelingt idealerweise etwas ganz anderes als der Verzicht – nämlich die Etablierung eines neu gepolten sozialen Belohnungssystems. Diese Lebensstile werden aufgeladen mit ästhetischen Formen, mit Style, mit neuen Formen von Gemeinschaft. Das macht sie attraktiv, verleiht ihnen Sog und Strahlkraft und lässt das bessere Leben aufscheinen.

Für die Kulturvermittlung steckt eine grosse Chance darin, solche Lebensstile mitzuerfinden und sie mit den Sehnsüchten der kommenden Generation zu verbinden. Aber gerade in den vorhandenen Sehnsüchten zeigt sich eine Schwierigkeit: Wie sollen wir mit dem „Denken von heute“ neue Narrative schaffen, die gänzlich anders sind als die alten Muster? Wie können wir über die bestehenden Denkformen hinauskommen?

…und alte Narrative auflösen

Die Kunst war schon immer ein Raum, in dem sich Gesellschaft ihrer selbst vergewissert. Sie bringt gesellschaftliche Selbstbilder – Narrative – in eine verdichtete, symbolische Form, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Gesellschaft verstanden werden kann. Das Narrativ muss aber nicht bruchlos wiederholt werden, es kann auf der symbolischen Ebene weiterentwickelt werden. Und auch das Lesen ist kein zu Ende definierter Prozess. So entsteht ein Raum für alternative Verständnisse, für Verschiebungen im Narrativ.

An diesen Raum möchte ich zum Abschluss erinnern und der Versuchung widersprechen, bei aller Übereinstimmung die Kulturvermittlung in BNE aufgehen zu lassen. Nicht so sehr aus Angst, die Kulturvermittlung könnte für nachhaltige Entwicklung vereinnahmt werden. Sondern weil die Qualität der Irritation für nachhaltige Entwicklung unverzichtbar ist. Die Grosse Transformation bedeutet einen kulturellen Wandel, der unsere bisherigen Denk- und Handlungsmuster über Bord wirft. Wie machen wir das? Wir müssen uns irritieren lassen, an die Grenzen unseres Sprechens und Verstehens stossen, damit wir etwas wirklich Neues lernen. Die Kunst kann diese Irritation erzeugen. Ihre prinzipielle Bedeutungsoffenheit schafft einen unabschliessbaren Rest, der letztlich unbeherrschbar ist.

Kunstwerk von einem Kind steht unter einem weissen Regenschirm mitten im Wald.
Der Theaterschaffende Andreas Bächli und der Künstler Daniel Bracher richteten 2021 für sieben Wochen ihre Ateliers in der Primarschule Mühlethal ein. Die Werke, die entstanden sind, konnten in einem Rundgang betrachtet werden. Foto: Yasser John

Und mit diesem Bedeutungsüberschuss arbeitet die Kulturvermittlung. Sie kann Räume öffnen, um Irritationen produktiv zu machen: Indem wir ihren Inhalt untersuchen und besprechen, was überhaupt zur Irritation führt. Indem wir reflektieren, welche Wahrnehmungsmuster zur Verunsicherung führen. Und indem wir ergründen, welche guten Gründe, welche Überzeugungen hinter der Irritation liegen. Das ist meiner Meinung nach der unverzichtbare und nicht ersetzbare Beitrag, den die Kulturvermittlung für nachhaltige Entwicklung leisten kann.

Es mögen kleine oder grosse Verschiebungen sein, die im begrenzten Rahmen der Kulturvermittlung stattfinden. Aber jede alternative Sichtweise, jede Handlung, die anders durchgeführt wird, verändert den Rahmen für zukünftige Entscheidungsprozesse, schafft die Voraussetzung für ein anderes Denken und wirkt mit an der Transformation unserer Gesellschaft zu einer neuen, nachhaltigen Lebensweise.


[1] Leitfäden zur Betriebsökologie in der Kultur gibt es im Internet frei zugänglich an vielen Stellen und es werden ständig mehr. Hier sind einige zu finden:
https://sustainablearts.ch/
https://tatenbank.org/
https://aktionsnetzwerk-nachhaltigkeit.de/studienkategorien/leitfaeden/

Das Literaturverzeichnis finden Sie auf der nächsten Seite.


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Wanda Wiezcorek

Wanda Wieczorek, Kulturwissenschaftlerin und Kulturvermittlerin, entwickelt und begleitet Projekte zur Demokratisierung des kulturellen Feldes durch Kooperation und Teilhabe, u.a. den "documenta 12 Beirat", die "Über Lebenskunst.Schule", die Partizipations-Plattform Zivilarena oder das Projekt "Die Kunstnäher_innen" am Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste. Sie lebt in einem Dorf bei Karlsruhe und engagiert sich dort für nachhaltige Entwicklung durch Bildungsprojekte und den Aufbau eines Netzwerks für regionale Ernährungssouveränität.